Brodeln, Flackern, Zischen, Text von Clemens Ottnad im Ausstellungskatalog Flecken und Streifen/Heinz Thielen, Galerie Reinhold Maas, Reutlingen

Brodeln, Flackern, Zischen
Wie unwill­kür­lich aus der Ursuppe der Malerei ent­sprun­gen erschei­nen die Arbeiten
von Heinz Thielen zu sein. Nennt er sie selbst ganz lapi­dar „Flecken“ und „Streifen“
abseits allen Gegenständlichen , mögen Andere dar­in durch­aus auch Assoziationen
zu vege­ta­bi­len Gebilden, strah­len­den Kindersonnen-Darstellungen oder weit
aus­ge­brei­te­ten Landschaftshorizonten able­sen wol­len. Doch ange­sichts der
Kombination eher außergewöhn­li­cher Farbtöne und deren unor­tho­do­xen
Verschichtungen müs­sen die sie Betrachtenden doch gleich wie­der von ihren all­seits
einge­üb­ten Seh- und Begriffskategorien der Gegenstandswelt abrü­cken. Spätestens
wenn in einer Streifen für Streifen ins­ge­samt hori­zon­tal gedach­ten Bildanlage nur
eines die­ser Teilseg­men­te jäh­lings in die Diagonale nach oben auf­be­gehrt, ist die
Vorstellung des Landschaftlichen ein für alle Mal durch(ge)strichen.

Dabei wei­sen die Malereien von Heinz Thielen im Aufbau ihrer ein­zel­nen
Kompositionsele­men­te, die nach und nach viel­fäl­ti­ge Verbindungen mit­ein­an­der
ein­ge­hen, eine beson­de­re Charakteristik auf. Weder wer­den näm­lich die
ver­schie­de­nen Farbbahnen und Flächen durch exakt bemes­se­ne Begrenzungslinien
von­ein­an­der geschie­den, noch sor­gen anders­far­big gefass­te oder gar unbe­ar­bei­te­te
Zwischenräume für deren Trennung. Ersteres wür­de zur Wirkung eines eher
sta­ti­schen Konstruktes bei­tra­gen, Letzteres iso­lier­te Farbinseln in Schwebezustän­de
ver­set­zen. So aber ver­schlin­gen im wört­li­chen wie im über­tra­ge­nen Sinne – die
Streifen und Flecken ein­an­der gegenseitig.

Eines ist im Anderen zu sehen. Mal schmiegt sich Farbe an Farbe geschmei­di­ger oder
lässt sach­te einen hel­ler dar­un­ter lie­gen­den Grund her­vor­lu­gen, mal rei­ben sie sich
an ihren Rändern gera­de­zu wider­spens­tig auf. Die wie zufäl­lig auf die angrenzenden
Farbgebiete gera­te­nen Schlieren und Tropfen tun – in einer Art anarchischen
Überschwanges – ein Übriges dazu. Während an der einen Stelle die weich fließende
Eitempera noch mate­ri­al­ge­sät­tig­te Strukturen kon­ti­nu­ier­lich ver­lau­fen­der Pinselzüge
nach­zeich­nen, brin­gen an ande­ren Stellen körnig-sandene Ablagerungen und
ein­ge­sprengs­el­te Farbschollen die­sel­be unver­mit­telt ins Stocken. Immer aber brodelt
und fla­ckert und zischt es in die­sen Arbeiten, als ob sie sich auf Dauer standhaft
wei­ger­ten, je wirk­lich als fer­tig, voll­endet und tat­säch­lich getrock­net ver­stan­den sein
zu wollen.

Abgesehen davon, dass die Arbeiten von Heinz Thielen über­wie­gend in einer Naß-in-
Naß-Technik zunächst auf dem Fußboden lie­gend und dem­zu­fol­ge in perspektivischer
Aufsicht ent­wi­ckelt wer­den, bil­den die Staffelungen der sich überlagernden
Malschichten in der Ansicht auf der Wand eine bemer­kens­wer­te Tiefenräumlichkeit
aus. Ein bestän­di­ger Wechsel von durch­schei­nen­den Davors und Dahinterliegenden,
volu­men­hal­ti­ger Malmasse einer­seits und eph­eme­rer Farbnebel ande­rer­seits, ein
Strömen der Pinselfaktur vom lin­ken Malgrund leicht fal­lend nach rechts unten,
Leserichtung und Zeitvergehen zugleich umfas­send. Ein ste­ter Wechsel auch in den
Wahrnehmungsräumen, in denen wir uns zu befin­den glauben.

Dieses fast fil­mi­sche Moment beweg­ter Bilder wird noch zusätz­lich ver­stärkt, indem
sich die flui­de wir­ken­den Oberflächen der Farbe bis über die Seitenkanten der
Keilrahmen hin­weg erstre­cken und sich selbst­er­mäch­tigt so auch auf den hinter
ihnen lie­gen­den Wandflächen – Projektionen der Vorstellungskraft – poten­ti­ell weiter
und wei­ter fort­füh­ren könn­ten. Schon die von Heinz Thielen ange­leg­ten Malbücher
machen auf ihren klein­for­ma­ti­gen Experimentierfeldern, die zu den Streifen-Bildern
ent­ste­hen, die Vorgehensweise deut­lich, als die Blätter nicht nur mit brei­ten Pinseln
voll­flä­chig bear­bei­tet sind. In der Regel rei­chen viel­mehr die Malspuren über die
eigent­li­chen Seitenränder hin­aus, grei­fen auf die gegen­über­lie­gen­de Seite über und
durch­trän­ken meh­re­re Lagen des Papiers auf ein­mal. Selbst noch die monumentalen
Flecken-Malereien kön­nen in die­ser Ambivalenz als mikro­sko­pi­sche Einblicke in 
die gehei­me Beschaffenheit von Kleinstlebewesen direkt vor uns wahr­ge­nom­men werden
oder aber umge­kehrt als wie zufäl­lig gelun­ge­ne Aufzeichnungen planetarer
Lichtexplosionen weit ent­fernt im All. Bewegung, Dynamik, Variation immer im Blick,
das eben Abgeschlossene Beginn eines wie­der Neuen. Nach dem Bild ist vor dem
Bild.
Clemens Ottnad