Text von Jens Kräubig im Ausstellungskatalog Farbmaßnahmen, Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, 1990, Edition Cantz
Seine letzten beiden abgeschlossenen Bilderreihen nennt Heinz Thielen »Strahlenfelder« und »Macchia«. Keine logische Konsequenz bindet diese Reihen, sondern ein durchgängiges Erfahrungsmuster, ein gleiches Kompositionsprinzip. Die einzelnen Bilder haben keine individuellen Namen, sind aber Individuen, deren Gestalt nicht der reinen Idee einer Serie geopfert wird. Der Zusammenhang ist der einer losen Reihe, fortsetzbar, die nicht ein Ganzes vollständig macht. Der Zusammenhang ist der einer Reihe von Orten, Landschaften, von konstruierten Wirklichkeiten, die namenlos bleiben.
Die Verwandlung des Zweidimensionalen, die Reaktion auf die Herausforderung der Fläche, vollzieht sich im Anfang durch die Freisetzung von Bewegung. Mit breiter Bürste gelenkte Farbströme, gesäumt von regellosen Spuren des Zufalls, lassen landschaftsähnliche Strukturen auftauchen, welche bei genauerer Bestimmung verschwimmen. Spürbar verfestigen sie sich als malerisch aufgetragene und bearbeitete Farbe, in der Impulse wirken, die Assoziationen wecken, Organisches evozieren. Kaum hat sich das Auge hier eingesponnen, stößt es an geometrisch bestimmte Felder, deren klare Form eine Farbe diktiert. Die Gebärde des Malens ist in diesen geometrischen Feldern weitgehend – aber nicht restlos – zurückgenommen, siewird dem Kalkül des Schnitts unterworfen. Die einschneidenden Farbfelder, unerbittlich streng, sind Antworten auf den Zufall, die die leichtfertigkeit der spontanen Gebärde relativieren – Farbmaßnahmen.
In dieser Gegenbewegung entsteht erst das eigentliche Bild, das zwingend und unumstößlich sein muß.
Als wolle er das Unvereinbare vereinen, läßt Thielen in krassen Schnitten völlig verschiedene Ebenen aufeinanderstoßen. Farbspuren geraten an Geometrie, Raumwirkungen schließen sich gegen Flächenwirkungen ab. Das Auge gerät in ein anderes Bild, wenn es von malerischen Ereignissen, vom Fluß der Farbe umschwenkt auf die exakte Form, die es aus illusionärer Räumlichkeit in die Fläche zurückreißt. Es gerät zwischen zwei Bilder, zwischen zwei Realitätsebenen, deren Zusammenprall Schwindelgefühle auslösen kann. Ein Ärgernis dem Auge, das sich an der Anschauung einer Einheit gehindert sieht; eine Herausforderung für das Auge, das den Widerspruch aushält, durch welchen das Bild stumm seine Macht behauptet. Innerhalb des traditionellen Bildrechtecks, das der Maler vorbehaltlos anerkennt, entfaltet sich eine bis zum Riß gesteigerte Gegensätzlichkeit von Form und Nicht-Form. Diesen Riß als gezieleten Schnitt vor Willkür zu schützen, darauf zielen die kompositorischen Anstrengungen des Malers ab. Die Bildelemente sind auszubalancieren, Dominanzen sind abzubauen, Differenzen zu verstärken. Dabei überlagern die Farbfelder die verschwimmenden Farbbewegungen und Landschaftsweiten nicht nur als irritierende Störung, sondern zwingen sie zugleich in eine Bestimmtheit, schaffen ihnen Vordergründe und Hintergründe, bündeln sie und holen sie im Blow-Up vor, weit vor die harten Grenzflächen. Die getrennten Räume beginnen zu kommunizieren. ohne vermittelnde Instanzen, und ohne in einem Ganzen aufzugehen. Die Einheit , die mit der Technik des krassen Schnitts sowohl unmittelbar herbeigezwungen wird, als sich auch zugleich entzieht, erinnert an die Wortneuschöpfungen aus bekannten Elementen bei Paul Celan:
Gletscherstube, Sprachgitter.
Der krasse Schnitt, als eine an den Zufall grenzende und zugleich exakte Operation, bewirkt ein Höchstmaß an visueller Intensivierung, wie Fotografie und Film sie mit diesem Verfahren entwickelt haben. Die Schnitt-Technik des Films und der fotografische Ausschnitt werden von Thielen in dramatische Mittel einer reinen Flächengestaltung verwandelt, die alles Erzählende ausschließt, aber das Ereignis des Malens selber dokumentiert in zufälligen Spuren und schneidenden Grenzziehungen: als organischen Prozeß und geometrische Konstruktion, als Fluß und Grenze.