Farbunruhen – Zur Malerei von Heinz Thielen
von Marion Keiner, Text im Ausstellungskatalog 20 Jahre Kunststiftung Baden-Württemberg, Zeppelin Museum Friedrichshafen, 1997
Heinz Thielen praktiziert seit den frühen 80er Jahren Malerei. Dabei geht es ihm um eine Zusammenführung von verschiedenen Möglichkeiten abstrakter Malerei oder die Verbindung heterogener Stilhaltungen im Bereich der Abstraktion und ihrer Traditionen. Jedes seiner Bilder, sei es im Groß‑, Mittel- oder Kleinformat, führt Malerei vor, seine Malerei, die ganz auf Spannung zwischen Farbe und Form lebt. Ausgangspunkt seiner Bilder ist nicht ein Entwurf. Das Werk verwirklicht keinen Plan – sondern wächst. Es wächst auf der Leinwand. Der Malprozeß beginnt mit einer ersten spontanen Setzung von Farben auf der leinwand, dünnflüssig, improvisierend. Aus einiger Distanz kommt es dann zu Grenzsetzungen, zu Maßnahmen, die den Schub der Farben kanalisieren und die Spannung regulieren. Sich zwischen emotionaler Handlung und reflektierender Betrachtung hin- und herbewegend, versucht der Maler, die Spannung innerhalb der gegensätzlichen farbigen Bildtatsachen zu maximieren. In dieser Steigerung zwischen Bestimmtem (Gesetz) und Unbestimmtem (Empfindung) hin auf ein malerisches Maximum, liegt das Abenteuer, das der Maler sucht.
Thielen entwickelt seine Bilder in Reihen. Der Künstler nummeriert sie chronologisch durch, ohne ihnen einen Titel zu geben. Alle Bildreihen sind im Prinzip einem elementaren Spannungsmodell verpflichtet, einer grundsätzlichen Gegensatzkonstellation verbunden. Gleichwohl verschieben sich von Bildreihe zu Bildreihe die Gewichtungen, z. B. hinsichtlich der Größe und Anzahl der geometrischen Ordnungsflächen, oder was die Struktur der informellen, malerisch in Aufruhr versetzten Farbbereiche betrifft. Aber auch innerhalb einer einzigen Bildreihe selbst können relativ konträre Bildindividuen auftauchen. Man vergleiche Bild »I 1996« und Bild »V 1996« : In »I 1996« dominiert eine Verdunklung bzw. Verdichtung im informellen Bereich; in Bild »V 1996« dominiert hingegen ein großes gelbes Farbfeld. Irritierend an Thielens neuester Bildreihe sind die sich in den gestisch geprägten Partien dunkel abhebenden Formen tendenziell organische Charakters. Diese Formen sind nicht durch eine Kontur linear abgeschlossen, noch sind sie überhaupt vollständig definiert. Es sind Formen, sich aus der großen Einheit lösende Einzelheiten, quasi unterwegs zu sich, Formen in ihrem malerischen statu nascendi. Zu ihrem Umfeld hin grenzen sich diese »Figuren« nicht strikt ab, sondern machen spürbar, daß Figur und Grund den gleichen Ursprung haben. Figur und Grund werden in ein Austauschverhältnis, in einen malerischen Schwebezustand versetzt. Figur und Grund fallen zusammen als Ausdehnungen der einen Farbmasse, deren chaotische Fülle von Einzeltönen nur Übergang, nichts Feststehendes kennt.
Häufig werden die organischen Formrudimente von leuchtenden geometrischen Farbfeldern angeschnitten. Diese homogenen Farbfelder liegen aufgrund ihrer Leuchtkraft scheinbar vor den organischen strukturierten Bereichen – aber weder so noch überhaupt läßt sich ihr Verhältnis zueinander definitiv bestimmen. Diese Unbestimmtheit halten, sie stark machen, daran arbeitet der Maler. Deshalb verwirft er bisweilen die Farbe bestimmter Rechteckfelder, deswegen taucht er bisweilen zurück zum freien Fluß der Farbe am Anfang. Mit den monochromen Rechteckformen wird die Gestik des Malens weitestgehend zurückgenommen: Denn sie ist bereits gesetzt, harrt einer Bearbeitung und wird daher nur dem Kalkül des Schnittes unterworfen. Die Technik des Schnitts erzwingt ein Verhältnis auch zwischen Konträrem: zwischen im Entstehen begriffenen Formen oder Strukturen einerseits und reiner Ausdehnung einer bestimmten Farbe andererseits. Eine andere Verknüpfungsform zwischen den heterogenen Bildkomplexen stellen die Bewegungssuggestionen dar. Während die organischen Formen, aus Pinselstrichen hervorgehend, Spuren gestischer Malbewegung sind, geht von den geometrischen Formen eine andere Bewegung, nämlich Richtungsenergie aus. Diese resultiert aus der Platzierung der Form, besonders aus ihrer Anbindung an den Bildrand, von dem sie sich gleichsam abstoßen. Ihr Richtungsdrang kann einer geradlinigen Bewegung entsprechend über das gesamte Bild hingehen – entweder horizontal, oder vertikal.
Die in der Anschauung erfahrbare Fülle der Malerei von Thielen beruht auf ihrem tonalen Reichtum. Die in der Anschauung erfahrbare Präsenz seiner Malerei beruht auf den radikalen Kontrasten. Wie vielfältig Farbe bei Thielen thematisiert wird, hat Jens Kräubig beschrieben: »Farbe zeigt sich – erstens – als Form, als begrenzte Fläche… Die monochromen Rechteckformen, die eine Farbe ganz für sich vorführen, verständlich zugeschnitten und objektiviert, holen dabei die Grenzen des Bildes ins Innere des Bildes. Farbe tritt – zweitens – als Bewegung auf, eine bewußte und doch zufällige Bewegung. Sie ist gewesene Aktion, Spur, in der Schubkraft nachwirkt. Dabei wird – drittens – die Materialität der Farbe besonders hervorgekehrt, ihre opulente, dehnbare Konsistenz. Sie wird als Stoff erfahrbar, als Masse und Haut. Farbe ist Form, Bewegung, Stoff – und doch bleibt da ein unformulierbarer Rest. Es ist die Unberechenbarkeit ihrer Wirkung, die Farbe erst zu einer selbständigen Energie werden läßt, auf die wir reagieren – mit der wir uns aber auch direkt identifizieren können« (in: Konstruktive Dissonanzen, 1993). Alles führt Thielen in Malerei zusammen – nichts wird zur Ruhe gebracht.